Erste Seite vom Streichquartett op. 17
Erste Seite des Streichquartetts op. 17
in der Handschrift von Eduard Erdmann

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Werkkommentare zu den aufgeführten Kompositionen



Bagatellen op. 5

Die Bagatellen op. 5 erschienen 1921 in zwei Heften bei Ries & Erler in Berlin (wo sie heute wieder in einer Neuauflage vorliegen). Sie sind nicht als einheitlicher Zyklus komponiert, sondern setzen sich aus einzelnen, kompositorisch und pianistisch unterschiedlich gehaltenen Stücken zusammen.
Die beiden ersten entstanden noch in Riga bzw. Ostrovice, die nachfolgenden in Berlin. Es sind Kompositionen des 16- bis 23 jährigen.
Entsprechend kann man in ihnen den Entwicklungsprozeß nachvollziehen, in dem verschiedene stilistische Einflüsse spürbar sind, aber auch eigene schöpferische Impulse deutlich werden.
Nr. 1 (1912) ist nicht mehr als eine zehntaktige Modulationsstudie über ein einfaches rhythmisches Motiv; Nr. 2 dagegen (1913) weist bereits Züge des Bizarren, bewußt Grotesken auf, die auch später immer wieder in Erdmanns Musik anzutreffen sind.
Nr. 3 (1914) steht am deutlichsten in der Tradition des romantischen Klavierstückes, und auch Nr. 4, Etüde - Schnell, wirbelnd (1914) knüpft - besonders in den langen Staccato-Oktav-Passagen - an Vorbilder von Chopin, Liszt oder Skrjabin an.
Nr. 5 (1915) ist als große Steigerung angelegt: zart und leise beginnend, erweitern sich Tonraum, Satzdichte und Dynamik zu monumentaler Intensität.
In Nr. 6 (1916) wechselt das Tempo mehrfach; zu Beginn erklingt ein schnell und sehr flott und mit ausgesprochen »neutönerischem« Impetus vorzutragendes Motiv, das aber langsamer, mit kokett historisierenden Figurationen (besonders dem Doppelschlag) und ironisch romantisierender Harmonik beantwortet wird.
Läßt sich hier ein »Strauss-Ton« heraushören, so zeigt Nr. 7, Zart bewegt, mit großer Freiheit im Zeitmaß (1919) am deutlichsten den stilistischen Bruch: Man spürt das »Noch« wie das »Schon« - die Herkunft aus dem romantischen Charakterstück, aber zugleich die Erkundung harmonischen Neulands.


Sonate für Violine allein op. 12

Erdmann schrieb die Solosonate für Violine 1920/21 und widmete sie seiner langjährigen Duopartnerin, der australischen Geigerin Alma Moodie (1900-1943), die sie in den 20er Jahren häufig aufführte.

Die Komposition läßt sich in einem größeren historischen Zusammenhang mit dem Epochenwandel sehen, der sich auf mehreren Ebenen vollzog.
Es fällt nämlich auf, daß um 1920 die Musik für Solostreicher großen Aufschwung nahm. Vorangegangen war Max Reger, und ihm folgten nun etliche Komponisten - Hindemith, Jarnach und andere, darunter auch Erdmann. Sie schrieben Werke, die sich bewußt von der im 19. Jahrhundert herrschenden virtuosen Sololiteratur absetzten und auf barocke Vorbilder zurückgingen.
Wichtigster historischer Bezugspunkt war Bach. Diese Rückbesinnung wurde theoretisch untermauert durch Ernst Kurths »Grundlagen des linearen Kontrapunkts« (1917) - ein Buch von größter Bedeutung, weil in ihm ästhetische Vorstellungen, die in der Zeit lagen, zusammengefaßt und auf die Praxis bezogen wurden.
So brachte die historische Reflexion unmittelbare schöpferische Impulse, und es entstanden neuartige Werke für Solostreicher, in denen nicht mehr die virtuose Bravour, sondern die Idee der »melodischen Polyphonie« im Vordergrund stand. Sie ging Hand in Hand mit einer dezidiert antiromantischen Haltung; klarer Aufbau, Schlichtheit im Ausdruck und Verzicht auf äußerliche Effekte wurden wesentliche Forderungen.

In diesem Sinne ist Erdmanns Bezeichnung im Trio des 2. Satzes, »Einfach, wie eine Volksweise« zu sehen. Darüber hinaus hat er ein paar aufführungspraktische Anweisungen notiert, die auch Hinweise für die formale und stilistische Deutung enthalten.
So heißt es zu einem Ab­schnitt des 1. Satzes:
»Die weiterspinnende Entwicklung des ersten Hauptgedankens ist melodisch intensiv als Ganzes zu >singen<«; im zweiten müßten »die Kontraste der heteroge­nen Elemente scharf unterstrichen - andererseits zusammengefaßt werden.«
Der ganze dritte Satz »muß als eine einzige melodische Erformung wirken«.
Schließlich: »Der vierte Satz muß durchweg mit Witz und Geist gespielt werden. Der Mittelteil - mit fast banaler Sinnfälligkeit. Die Rückleitung zum ersten Hauptgedanken - militärisch. Der letzte Eintritt des Hauptgedankens (in der Umkehrung) - etwas gehalten und mit allergrößtem Nachdruck (wuchtig!).«

Entscheidend für die Gestaltung ist es, die großen linearen Zusam­menhänge herauszuarbeiten, wobei freilich die Gefahr besteht, die Theodor Wiesengrund Adorno in einer Frankfurter Kritik 1923 formulierte: »Das Stück ist aus Einfallsfragmenten zusammengesetzt, die schon eigenes Gesicht haben, aber ganz nur von außen unter die Sonatenform gebracht sind, die doch der Struktur solcher zerflatternden Thematik völlig entgegen ist: so bleibt es bei loser Unterhaltung.«
Diesem Eindruck entgegenzuwirken, ist die Aufgabe der Interpretation.


Fünf Klavierstücke op. 6

Die Stücke sind, ebenso wie die Bagatellen op. 5, nicht als zusammenhängende Gruppe konzipiert, sondern entstanden einzeln zwischen 1915 und 1918.
Im Vergleich zu den beiden ersten, liedförmig angelegten Charakterstücken - Nr. 1 (1916) ist dem »Lehrer Heinz Tiessen in Verehrung« gewidmet, Nr. 2 (1915) ein Albumblatt zum Geburtstag der Mutter - und dem expressiv ausladenden vierten (1918) fällt besonders das dritte (1918) auf: Sehr leicht, mit blasierter Grazie. Mit seinen frei atonalen Passagen und der strengen motivischen Arbeit zeigt es unmittelbar den Einfluß Schönbergs.
Von besonderem Reiz ist das 1915 entstandene letzte Stück Prptilpus. Eine Fuge - Meinem Kater gewidmet. Hier zeigt sich mit der Spielvorschrift: Sehr schnell und grotesk und dem 5/4-Takt Erdmanns Liebe zum Skurrilen.
Wild!, schleichend!, zart poin­tiert, polternd! lauten die Spielvorschriften, und schließlich endet das Stück, indem der Kater zum Sprung ansetzt; drohend! gehämmert! erklingen Staccato-Akkorde - Generalpause -: Prptilpus wirft eine Vase um!

Die Stücke erklangen zum ersten Mal in jenem denkwürdigen Konzert im Rahmen der von Hermann Scherchen veranstalteten »Abende zeitgenössischer Musik« (28. März 1919), in dem Erdmann auch Schönbergs Klavierstücke op. 19 und Alban Bergs Sonate op. 1 aufführte und das ihn mit einemmal berühmt machte.
»Konzertschlacht - Musikalische Expression-, Futur- und andere Ismen« war eine Rezension überschrieben. Freilich - um eine Konzertschlacht, die sich mit den Wiener Skandalen hätte messen können, handelte es sich nicht. Aber der Abend war ein Markstein in der Berliner Geschichte der Neuen Musik.


Vier Lieder op. 2

Wie in einigen seiner Klavierbagatellen zeigt sich auch in den Liedern Erdmanns starke Verbundenheit mit der Spätromantik. Die insgesamt 18 Lieder, die er veröffentlichen ließ, waren alle in den Jahren bis 1918 entstanden. Sie lassen oft genug die musikalischen Vorbilder durchscheinen - Schumann und Brahms sind wichtige Bezugspunkte, daneben Wolf, Strauss und zuweilen auch Mussorgskij - und werfen überdies ein Licht auf Erdmanns literarische Interessen, die neben Dichtern wie Mörike, Geibel und Nietzsche auch die Zeitgenossen Liliencron, Bier­baum, Rilke, George, Morgenstern, Arno Holz und Gedichte aus Paul Gauguins Noa Noa betrafen.
Die Vier Lieder op. 2, entstanden 1913-15, sind die frühesten publizierten Vokalkompositionen. Septembermorgen zeichnet Mörikes Gedicht in feinsten Nuancen nach: Der ganze Anfang steht im piano-pianissimo-Bereich, und die Anweisung an den Pianisten, Kühle, dämmrige Ruhe!, die als charakterisierende Ergänzung zur dynamischen Angabe zwischen die Zeilen des Klaviersystems gedruckt ist, zeigt die Stimmungslage der akkordischen Begleitung, über der sich der Gesang zunächst rezitativisch erhebt, um dann in weiten Linien den Worten und den durch sie hervorgerufenen Bildern zu folgen.
Das 2. Lied auf ein Gedicht von Jens Peter Jacobsen trägt statt einer Tempo- oder Charakterangabe die Überschrift Mit Charme, und im Wechsel von Vordringen und Innehalten ergibt sich ein graziöses Bild der Verliebtheit.
Nr. 3 ist im Tonfall eines Notturno gehalten.
In Nr. 4, dem frühesten der Lieder (2. September 1913 datiert), folgt der 17-jährige Komponist ganz offenkundig dem Strauss'schen Vorbild. Überhaupt wirkt das op. 2 insgesamt noch eher eklektizistisch; erst in den Liedern der Jahre 1917/18 machen sich eigenständige Züge bemerkbar.

Zu dieser Zeit begann Erdmann, sich systematisch die gesamte Liedliteratur zu erarbeiten - allem anderen voran die Welt Franz Schuberts, aber auch die anderen Liedmeister der Romantik und der neueren Zeit bis hin zu Schönberg, dem er 1920 einen bedeutenden Aufsatz in der Zeitschrift Melos widmete (Von Schönberg und seinen Liedern).
Dieses intensive Studium wird ihn gerade den eigenen Arbeiten gegenüber besonders selbstkritisch gemacht haben, und er stand mittlerweile der Gattung Lied nicht mehr so unbefangen wie in den Jugendjahren gegenüber - was der Grund dafür sein könnte, daß Erdmann danach die Liedkomposition ganz aufgab.


1. Septembermorgen

(Eduard Mörike)
Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,
herbstkräftig die gedämpfte Welt
in warmem Golde fließen.

 

 

 

2. Seidenschuhe auf goldnem Spann
(Jens Peter Jacobsen,
deutsch von E. v. Mendelssohn)

Seidenschuhe auf goldnem Spann!
Ein Mädchen ich mir gewann!
Ein holdes Mädchen ich mir gewann!
Keine ist wie sie auf der Welt gewesen,
keine ist wie sie so fein!
Wie Himmel im Süden
und Gletscher im Norden ist sie rein.
Sie ist das irdische Glück meines Himmels,
und Flammen, entspringend dem Schnee.
Keines Sommers Rose ist roter
als ihre Augen sind schwarz.
3. Nachtwanderung
(Wilh. Kritzinger)
Durch die klare Mondennacht
tat ich fürbaß gehen,
ließ das kühle Lüftchen
sacht durch das Haar mir wehen,
trank mich durstgen Auges tief
in die blaue Ferne.
Um mich her die Erde schlief
über mir: die Sterne.
Lauschte schweigend ihrem Gang
lange ohn' Ermüden.
Und in meine Seele drang
süßer Himmelsfrieden.
4. Kornblumen wind ich dir zum Kranz
(Emanuel Geibel)
Kornblumen wind ich dir zum Kranz
Ins blonde Lockenhaar.
Wie leuchtet doch der blaue Glanz
Auf goldnem Grund so klar.
Der blaue Kranz ist meine Lust:
Er mahnt mich stets aufs neu',
Daß keine wohl in tiefster Brust
Wie du, mein Kind, so treu.
Auch mahnt sein Himmelsblau zugleich
Mich heimlich süßer Art,
Daß mir ein ganzes Himmelreich
In deiner Liebe ward.



Streichquartett op. 17

Das Quartett wurde 1932 begonnen und erst 1937 beendet. Die Tatsache, daß es das einzige Werk ist, das Erdmann in den Jahren seiner kompositorischen Isolation während der Nazizeit schrieb, unterstreicht die Bedeutung im Sinne eines persönlichen Bekenntnisses; es ist »Meinem verehrten Freunde Emil Noide gewidmet«.
Die Partitur zeigt exemplarisch wesentliche Eigenschaften des Erdmannschen Stils. Ernst Krenek hat darauf hingewiesen, daß er vom »Vokabular der Strauss'schen Spätromantik« ausgegangen sei, worauf auch »das Schwungvolle seiner dramatischen Gesten zurückgeführt werden« könne.
Er wurde von der Erfahrung der Atonalität geprägt und war von deren expressiven und konstruktiven Möglichkeiten überzeugt, ohne freilich den Schritt zur Zwölftontechnik mitvollziehen zu mögen.
Breit angelegte expressive Momente und eine »neu sachliche« Tendenz zur Reduktion, zur Beschränkung auf knappe Gesten, liegen im Wettstreit, wobei der erzählerische Grundzug die Oberhand behält. Traditionelle Elemente wie die strenge motivisch-thematische Arbeit (im Finale auch das Fugato), die Technik des entwickelnden Variierens und eine linear, oft ausgesprochen kantabel gehaltene Melodiebildung sind bezeichnend für diesen Stil.
Das Streichquartett wurde erst 1967 uraufgeführt und seitdem von mehreren Ensembles gespielt (vom Rheinischen Bach-Collegium liegt eine CD-Produktion vor).



© Prof. Dr. Volker Scherliess