Eduard Erdmann
1896 - 1958


Eduard Erdmann wurde am 5. März 1896 in der baltischen Stadt Wenden geboren. 1905 zog die Familie nach Riga, wo er neben dem Gymnasium (in dem Russisch Unterrichtssprache war) auch Klavier- und Theorieunterricht bekam; ab 1914 studierte er in Berlin bei dem Lisztschüler Conrad Ansorge und wurde Kompositionsschüler des jungen, avantgardistisch gesonnenen Heinz Tiessen. 1919 heiratete er die ebenfalls aus dem Baltikum stammende Irene von Willisch.
Im selben Jahr begann seine eigentliche Karriere an einem der von Hermann Scherchen veranstalteten »Abende zeitgenössischer Musik«, bei dem er unter anderem Schönbergs op.19, Alban Bergs Sonate op.1 und seine eigenen Klavierstücke op.6 vorstellte. Die Resonanz war überwältigend; mit einem Schlage war er zu einer wichtigen Figur des Berliner Musiklebens geworden. Von Anfang an trat Erdmann als Pianist und als Komponist auf. 1921-23 wirkte er als Juror bei den »Donaueschinger Kammermusiktagen für zeitgenössische Tonkunst«.
1925 wurde er von Hermann Abendroth als Leiter einer Meisterklasse für Klavier nach Köln berufen. Als er jedoch 1935 im Zuge nationalsozialistischer Übergriffe erleben mußte, wie jüdische Kollegen in der Hochschule verprügelt wurden, legte er sein Lehramt nieder, zog sich mit seiner Familie in das 1923 erworbene Landhaus in Langballigau an der Flensburger Förde zurück und verließ dies Refugium nur für die Konzertreisen.

Nach dem Krieg wurde er von Philipp Jarnach an die Hamburger Musikhochschule berufen, wo er bis zu seinem Tode (21. Juni 1958) wirkte und eine Reihe bedeutender Schüler anzog. Ein Schlüssel zu Erdmanns Persönlichkeit sind die Bemerkungen in einem Aufsatz aus dem Jahre 1920:
 »Zwei Faktoren geben jedem künstlerischen Schaffen Eigenart und Gehalt: einerseits das Eigenleben des künstlerischen Stoffes, andererseits die menschliche Persönlichkeit des Schöpfers. Selbstverständlich kann kein echtes Kunstwerk ohne diese beiden Eigenschaften lebendig sein - das ausschließliche Vorhandensein der einen führt zum dekorativen Kunsthandwerk, das der anderen zum ungestalteten Tagebuchbekenntnis. Dagegen zeigen die Kunstwerke eine sehr verschiedene Mischung dieser Elemente. Die Wirkung einiger beruht mehr auf der persönlichen Äußerung, die anderer mehr auf dem Ausschöpfen gesetzmäßig ablaufenden musikalischen Geschehens.«

Den Endpunkt der individualistischen, emotional geprägten Richtung sieht er in Schönberg.
»Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier bemerkt, daß nicht die Gesamtheit der fortschrittlichen musikalischen Jugend sich zu Schönberg uneingeschränkt bekennt. Ein Teil dieser Jungen, zu dem ich mich selbst zähle, fühlt wieder eine starke Wahlverwandtschaft zu jenen Meistern, die mir, wie etwa Bach, vor allem aber seine Vorgänger, wie Schütz, Buxtehude, späterhin Schubert, zuletzt vielleicht Bruckner, das >Erformen< des musikalischen Stoffes in herrlicher Erfüllung zeigen.« (Beethoven und wir Jungen, Berlin 1920).

Abkehr von übersteigertem Romantizismus, Befreiung von metaphysischer Bürde und vor allem Versachlichung - das waren Forderungen, die in der Luft lagen. Sie galten für das Komponieren ebenso wie für das Spielen. Und auch beim Reden über künstlerische Fragen sollte es um sachliche Argumentation statt um Mystifikation gehen. Als Pianist wollte er nicht, wie er es nannte, »ein professioneller Freudenspender« sein.

Den Ideen des Bauhauses nahestehend, lag ihm vor allem die rationale Seite, das analytische Durchdringen und Verdeutlichen der kompositorischen Struktur am Herzen.
Nicht »Interpretation« im Sinne subjektiver Deutung, und schon gar nicht Gefälligkeit dem Publikum gegenüber, sondern eine möglichst objektive »Wiedergabe« der Musik war sein Ziel. Nichts sollte in die Musik hineingetragen werden, was nicht in ihr steckte und analytisch begründbar wäre; es kam ihm darauf an, Musik - auch die ausdrucksintensivste - nie als Gefühlsschwelgerei, sondern wahrhaft als »tönend bewegte Formen« darzustellen.

Erdmanns besondere Liebe galt Franz Schubert, und gemeinsam mit seinem älteren Freund und Mentor Artur Schnabel hatte er maßgeblichen Anteil an der Schubert-Renaissance der 20er Jahre. Altersgenosse von Kempff und Gieseking (mit dem er zwei Jahrzehnte lang die gesamte Literatur für Klavierduo aufführte), verkörperte er doch einen anderen Typus des Musikers. Das zeigen schon seine Programme, in denen nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch die systematisch erforschten alten Klaviermeister ihren festen Platz hatten.
Die Liste der Werke, die er zwischen Winter 1919/20 und Mai 1925 in Berlin aufgeführt hat, spricht für sich; sie umfaßt die Namen Scheidt, Froberger, Kerll, Kuhnau, Bach (mit den Goldberg-Variationen, die Erdmann als erster in der originalen Fassung auf dem Flügel spielte), Johann Gott­fried Eckardt, Beethoven, Schubert, E. T. A. Hoffmann, Mendelssohn, Schumann, Chopin, Liszt,Alkan, Smetana, Goetz, Brahms, Mussorgski, Rachmaninow, Nielsen, Rottenberg, Skrjabin, Willner, Busoni, Bartök, Debussy, Schnabel, Schönberg, Tiessen, Krenek, Wense, Jarnach und die eigenen Klavierstücke op.6.

Und ebenso bezeichnend für seine Haltung als Interpret, die von höchster künstlerischer und moralischer Verantwortung gegenüber dem Publikum ausging, war der Konzertzyklus von vier Abenden, mit dem er nach dem Kriege in verschiedenen deutschen Städten auftrat und ausschließlich Werke von Komponisten spielte, die seit 1933 in Deutschland nicht aufgeführt werden durften: Mendelssohn, Alkan, Dukas, Milhaud, Strawinsky, Castelnuovo-Tedesco, Willner, Toch, Schulhoff, Schönberg, Berg und natürlich die engeren Freunde Schnabel, Hindemith und Krenek.

Nicht nur als Interpret - auch als Komponist wurde er bald zu einer festen Größe im deutschen Musikleben. Besonderen Erfolg hatte er mit seiner 1. Symphonie, die in der Presse den Beinamen »Expressionistische« erhielt, nachdem sie auf dem Weimarer Tonkünstlerfest 1920 uraufgeführt worden war (ein Datum übrigens, das in Thomas Manns Roman »Doktor Faustus« als Uraufführung von Adrian Leverkühns »Kosmischer Symphonie« wiederkehrt).
Die Partitur war Alban Berg gewidmet, der ihm darauf schrieb: »Neben der rein persönlichen Freude bereitet mir diese Widmung auch eine gewisse künstlerische Genugtuung. Ich entnehme nämlich daraus, daß in Deutschland ebenso wie im Ausland (Frankreich: Ravel, Italien: Casella etc.) Interesse für meine Musik zu bestehen scheint, eine Tatsache, die ich von den Österreichern nicht behaupten kann.«

Erdmann galt als einer der tonangebenden Komponisten unter den Deutschen seiner Generation. Insgesamt komponierte er vier Symphonien (1919, 1923, 1947 und 1951), mehrere einsätzige Orchesterwerke (Rondo op.9, Ständchen op.16, Capricci op.21 und Monogramme op.22), ein Klavierkonzert (1928), das Konzertstück - Rhapsodie und Rondo für Klavier und Orchester (1946), Soloviolinsonate, Streichquartett sowie mehrere Hefte von Liedern und Klavierstücken.
Um ein Beispiel herauszugreifen:
Das Klavierkonzert op.15 traf den Nerv der Zeit; nach der Kölner Uraufführung unter Hermann Abendroth spielte Erdmann es auch mit Dirigenten wie Bruno Walter und Otto Klemperer. Es handele sich, so schrieb der Musikhistoriker Alfred Einstein, um ein »Stück prachtvoller Musik von infernalischem Übermut, ein Werk echten Temperaments, echten Geistreichtums«.

Erdmanns Musik trägt oft rhapsodische Züge; sie ist auf der einen Seite durch großangelegte formale Bögen und kantable Linearität geprägt, auf der anderen durch detaillierte motivische Arbeit und fein gesponnenen polyphonen Satz.
Weit ausholende Gesten kontrastieren mit präziser, knapper Motorik; die emotionale Glut des Expressionismus, ja ein geradezu spätromantischer Über­schwang steht neben ausgesprochener Nüchternheit und klanglicher Kargheit.
Solche Gegensätze finden sich allenthalben. Wenn auch Erdmanns Kompositionen nicht ausdrücklich als »entartet« gebrandmarkt wurden, so war er als Komponist zwischen 1933 und 1945 doch zum Schweigen verurteilt. Und daß seine Komposi­tionen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr die alte Beachtung fanden, lag natürlich vor allem am gewandelten Interesse des Publikums und daran, daß sie doch eher einer »Welt von gestern« zugehörten.

Entscheidend war aber, daß Erdmann, der sich selbst immer als Komponist verstanden hatte, der seinen Lebensunterhalt durch Klavierspielen verdienen mußte, der breiten Öffentlichkeit nur noch als Pianist bekannt war.
Nicht nur der Künstler faszinierte diejenigen, die ihm begegneten; Erdmann war in seiner Gesinnung und seiner geradezu enzyklopädischen Bildung ein »Abendländer«.

Als enthusiastischer Leser und Sammler trug er im Laufe der Jahre eine unter Fachleuten berühmte Bibliothek zusammen.
Aus dem Umgang nicht nur mit Musikern, sondern auch mit Gelehrten, Schriftstellern und bildenden Künstlern ergaben sich Freundschaften, die die Zeiten überdauerten. Besonders die zu Emil Nolde ist zu erwähnen, der 1948 in zweiter Ehe Erdmanns älteste Tochter heiratete.

Erdmanns Persönlichkeit war von Gegensätzen geprägt. Nüchterne, rationale Sachlichkeit auf der einen Seite, Weltfremdheit und Skurrilität auf der anderen.
(Auf die Frage im Rundfunkstudio etwa, ob er die eben gemachte Aufnahme abhören wolle, antwortete er nur: »Ach was, davon wird sie auch nicht besser«.)
Er war ein dankbares Objekt für die Phantasie, und die Fülle treffender (oder gut erfundener) Anekdoten zeigt, daß man dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit mit normalem Maß nicht gerecht werden konnte.
Wer sonst - um nur ein Beispiel herauszugreifen - empfindet es schon als »Menschenpflicht«, die ganze Göttliche Komödie von Dante im italienischen Original auswendig zu lernen - und tut es dann auch?

Über die Persönlichkeit Erdmanns wie über das reiche geistige und kulturelle Umfeld gibt das 1968 erstmals erschienene Buch »Begegnungen mit Eduard Erdmann« (hrsg. von Christof Bitter und Manfred Schlösser) umfassend Auskunft. Eine Neuauflage ist im Berliner Verlag Agorà geplant.

Erdmanns Kompositionen sind zum großen Teil im Verlag Ries und Erler Berlin greifbar.
Eine Ausstellung (mit Katalog und CD) findet November/ Dezember 1996 im Rahmen des Projektes der Musikhochschule Lübeck »Werkstatt Musikgeschichte: Musik in Deutschland - 20er bis 50er Jahre« im Lübecker Museum für Kunst und Kulturgeschichte (Behnhaus) statt.
Die CD-Edition historischer Aufnahmen ist von der französischen Firma TAHRA Productions (gemeinsam mit der Fondation Internationale Hermann Scherchen, Bezons) vorgesehen.


© Prof. Dr. Volker Scherliess, 1996