Illustration von Monica Polasz, Hamburg



Jeremy Siepmann:
Gespräch mit Brendel (1972)




Jeremy Siepmann: Meine Frage mag seltsam erscheinen, aber ich weiß durch meinen Umgang mit Interpreten, daß die Antwort darauf sich keineswegs von selbst versteht: Lieben Sie ihren Beruf?

Alfred Brendel: Aber sicher. Ich spiele besonders gerne, seit ich, in den letzten Jahren, den Eindruck habe, daß vieles von dem, was ich tue, sich auch überträgt. Ich sammle Magnetophonbänder meiner Konzerte, damit ich kontrollieren kann, was ich gemacht habe, wobei ich mir darüber im klaren bin, daß der Klang, den die Mikrophone eingefangen haben, mit jenem in der 23. Reihe nicht übereinstimmen muß.

Siepmann: Von dem Sinn, den die Klänge vermitteln, gar nicht zu reden - er mag sich in ebenso vielen Bedeutungen übertragen, als es Sitze in der 23. Reihe gibt. Stört es Sie, daß musikalische Kommunikation nicht genauer vollzogen werden kann?

BRENDEL: Ja, es stört mich vieles daran — gelegentlich sogar der Beifall des Publikums. Denn das Publikum akzeptiert oft Gutes und Schlechtes mit ähnlichem Freudengeschrei. Obwohl man so ungeheuer auf die Resonanz des Publikums angewiesen ist, da man ja schließlich etwas übermitteln will, muß man doch danach trachten, von Urteilen anderer völlig unabhängig zu sein. Falls das möglich ist.

Siepmann: Sie sagen, das Publikum akzeptiere auch Schlechtes. Aber könnte nicht, was den einen schlecht ist, gut sein für einen anderen, der ebenso befugt ist, Urteile abzugeben? Glauben Sie an ein eindeutiges Richtig und Falsch, Gut und Böse in bezug auf musikalische Interpretation? Oder läuft, jenseits einer gewissen professionellen Informiertheit, am Ende alles auf jenen persönlichen Geschmack hinaus, dem bestimmte psychologische Eigenschaften des Urteilenden zugrunde liegen?

BRENDEL: Bis zu einem gewissen Grade, aber doch wohl nicht ganz. Wenn man als Grundlage ein sehr hohes professionelles Niveau voraussetzt - eine Vertrautheit mit der Musik, die auf Talent, Erfahrung und psychologischer Einsicht in das jeweilige Stück beruht -, dann nicken sich, so meine ich, die Urteile näher.

Siepmann: Sie sagten, der Interpret sei dazu da, eine Verbindung zwischen Komponisten und Hörern herzustellen. Das stimmt natürlich, klingt aber doch stark vereinfacht.

BRENDEL: Zugegeben. Ich muß sagen, daß mich persönlich die Verbindung mit dem Komponisten noch viel mehr interessiert als die mit dem Publikum. Was mich reizt und beschäftigt, ist, ein Musikstück seiner Eigentümlichkeit, seiner Besonderheit gemäß darzustellen. Daß ich dem Publikum etwas übermitteln muß, ist dabei teils ein notwendiges Übel, teils eine höchst fesselnde Herausforderung. Es ist ein Übel, weil es dem Interpreten ein Gefühl der Macht gibt, wie es besser nicht ins Spiel kommen sollte. Es könnte ein solcher Genuß werden, das Publikum zu beherrschen, daß der Spieler vergäße, worin seine musikalische Aufgabe besteht. Musikalische Notwendigkeit und die Gewalt, die der Spieler über seine Hörer ausübt, sind nicht immer dasselbe.

Siepmann: Ist es eine Aufgabe des Interpreten, das Publikum zu »erziehen«? Ein namhafter Interpret, der gefragt wurde, ob es wünschenswert sei, jeden Eintritt eines Fugenthemas hervorzuheben, sagte: »Wenn ich für mich selbst spiele, wurde ich es nicht tun. Ich weiß, es ist da. Ich kann es sehen. Ich kann es hören. Ich kann es sogar fühlen. Im Konzert würde ich es aber doch tun.« Wieweit läßt sich, in Ihren Augen, eine solche doppelte Moral verteidigen?

BRENDEL: Es gibt da zwei Faktoren. Zunächst muß der Interpret ein Stück verdeutlichen. Er muß dem Hörer das Hören erleichtern, ob es nun um späte Beethoven-Quartette geht oder um Mozart-Sonaten. Es sollte sich eine Synthese aus der Musik und den Gefühlen des Interpreten einstellen, die nicht angestrengt und allzu absichtsvoll wirkt. Der zweite Faktor ist dieser: Der Interpret ist in dem Augenblick verloren, in dem das Publikum spürt, daß es belehrt werden soll. Man darf es die Hörer nie fühlen lassen, wenn man sie erziehen will.

Siepmann: Ist nach Ihrer Meinung musikalische Analyse für den Interpreten von praktischem Wert?

BRENDEL: Ich meine, daß jeder ausführende Musiker eine gründliche Ausbildung als Komponist absolvieren mußte. Er müßte mit traditioneller Harmonielehre und traditionellem Kontrapunkt so gut vertraut sein, daß es ihm gelänge, brauchbare Kadenzen ohne fehlerhafte Stimmführungen zu schreiben. Was die Analyse betrifft, so gibt es da verschiedene Möglichkeiten; nicht alle sind für den Interpreten von gleichem Nutzen. Es ist aber interessant festzustellen, daß die Komponisten, zumindest die älteren, recht selten ein Wort über formale Vorgänge fallen ließen. Sie haben es in einem sehr aufschlußreichen Maße vermieden, sich über dieses Thema auszulassen. Hingegen finden sich genügend hinweise auf Atmosphäre, Charakter, poetische Ideen - manchmal in den erstaunlichsten Zusammenhängen. Interpreten, die sich auf poetische Vorstellungen berufen, sind durch das Vorbild der Komponisten entschuldigt. Man sollte Analyse nie für den Schlüssel zu jener Art von musikalischer Eingeweihtheit halten, die große Interpretationen ermöglicht. Nehmen wir an, wir analysierten ein Stück mit Hilfe von Schenkens Ideen und stellten fest, daß an einer bestimmten Stelle ein höchst wichtiger Harmoniewechsel stattfindet - so wird uns dieses Bewußtsein nur dann etwas nützen, wenn wir imstande sind, während der Aufführung die genaue Spannung der Stelle zu spüren und darzustellen, den genauen Wechsel der Atmosphäre, das Zusammenwirken aller musikalischen Elemente in ihrem notwendigen Mischungsverhältnis. Daß Analyse oft nur zeige, wie etwas gemacht ist, und nicht, was es ist - diese Feststellung kommt von Arnold Schönberg, der einer der größten musikalischen Analytiker war.

Siepmann: Glauben Sie, daß Interpretationen im Konzertsaal und auf der Platte verschiedene Arten des Hörens stimulieren oder sogar bedingen? Ist eine Aufnahme nicht ihrem Wesen nach unnatürlich (oder, wenn man will, unmusikalisch), da sie, im Gegensatz zur Konzertaufführung, immer wieder ohne jede Veränderung wiederholt werden kann? Müssen wir unsere Hörgewohnheiten darauf abstimmen?

BRENDEL: Daß es da grundlegende Unterschiede gibt, ist mir völlig klar, aber ich fühle mich, nach 50 oder 60 Platten, noch immer nicht in der Lage, sie beim rechten Namen zu nennen. Als ich meine ersten Platten machte, schienen mir Aufnahme und Konzert weiter voneinander entfernt als heute. Der Interpret spielt im Studio nicht vor einem Publikum, und er bleibt während des Spielens für andere unsichtbar. Nicht das Risiko scheint zu zählen, sondern das Resultat: das fertiggeschnittene Tonband. Je mehr Plattenerfahrung ich sammelte, um so mehr versuchte ich, wie im Konzertsaal zu spielen - vor einem vorgestellten Publikum. Der Vergleich von Konzertaufführungen mit Platten hatte mir gezeigt, daß ein gutes Konzert durch eine Schallplatte nie ganz ersetzt werden kann. Ich glaube, man sollte viel mehr Konzerte, mit allen ihren Unvollkommenheiten und Geräuschen, aufnehmen und auf Platten veröffentlichen. Die Qualität von Klavieraufnahmen scheint mir übrigens heutzutage durch die Verfeinerung der Aufnahmegeräte eher gefährdet als gefördert.

Siepmann: Verändern Sie, wenn Sie aufnehmen, bewußt irgendwelche Details Ihrer Aufführungen, eigens für die Schallplatte?

BRENDEL: Nur dann, wenn ich beim Abhören bemerke, daß etwas unproportioniert hervor- oder zurücktritt, daß etwas anders wirkt, als wenn man mich sähe oder meine physische Anwesenheit im Saal spürte.

Siepmann: Wie ich annehme, sind Sie der Meinung, daß auch das sichtbare Benehmen des Spielers seine musikalische Funktion hat? Daß er seine Anwesenheit vor dem Publikum visuell dazu benutzen kann oder sogar soll, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Stellen der Musik zu richten?

BRENDEL: Das stimmt. Als ich mich zum erstenmal im Fernsehen sah, war das wie ein Schock. Mir wurde bewußt, wie sehr mein Aussehen während des Spielens von der Musik ablenkte; Gesten und Grimassen widersprachen nicht nur der Vorstellung, die ich selbst von den notwendigen Bewegungsvorgängen hatte, sie widersprachen auch in grotesker Weise dem, was ich tatsächlich spielte. Man mußte damals die Augen fest schließen, um hören zu können, was ich spielte. Jemand schenkte mir dann einen großen, mehrteiligen Spiegel, den ich neben meinen Flügel stellte; ich sah zwar selten hinein, aber er stand da, und seine Wirkung machte sich geheimnisvoll bemerkbar. Er half mir dabei, meine musikalische Vorstellung mit dem zu koordinieren, was ich durch Bewegungen ausdrücken wollte. Es gibt viele Beispiele für Stellen, in denen der Spieler optisch eingreifen muß. Am Schluß der H-Moll-Sonate von Liszt etwa, vor dem Eintritt des pianissimo auf den drei H-Dur-Akkorden, ist ein wichtiges crescendo auf einem Akkord vorgeschrieben, welches man nur durch eine Körperbewegung suggerieren kann.

Siepmann: Sie haben im Laufe der Jahre eine ungeheure Anzahl von Platten gemacht. In welcher Beziehung stehen Sie zu diesen Sprößlingen?

BRENDEL: Platten sind eine Art von Nachkommenschaft, von der man leider nicht sagen kann: ich kümmere mich um sie, bis sie erwachsen sind; dann vergesse ich sie, so gut ich kann, und lasse sie ihr eigenes Leben führen. Platten führen sofort ihr eigenes Leben, sie entziehen sich dem Einfluß ihres Vaters und werden kaum je erwachsen! Es bleibt an ihnen, für den Interpreten, oft etwas Infantiles. Platten sind wertvolles Lehrmaterial - aber nicht immer Quellen des Vergnügens.

Siepmann: Musik ist heute viel leichter erreichbar geworden. Wie beurteilen Sie die Auswirkungen von Radio und Schallplatte auf das Musikleben im allgemeinen? Die Zahl der musikalischen Amateure scheint sich seither ja stark vermindert zu haben.

BRENDEL: Das ist wahr und zu beklagen. Andererseits können nun viele Menschen, und Klassen von Menschen, Musik hören, denen sie vorher nicht zur Verfügung stand. Musik ist nun schon viel weniger den Besitzenden vorbehalten.

Siepmann: Sie berühren da eine Frage, die mich sehr interessiert. Gibt es, nach ihrer Ansicht, irgendeinen musikalischen Grund dafür, daß die sogenannte ernste Musik die Provinz der Aristokratie, der Intellektuellen, des gebildeten Bürgers sein müsse, einen Grund, der erklärte, weshalb diese Musik den »kleinen Mann« weniger anzugehen scheint als Pop, Jazz oder das Musical?

BRENDEL: Dem Arbeiter oder Kleinbürger fehlt wohl in seiner Jugend die Anregung zum Verständnis »ernster« Musik. Es müßten, gerade hier in Großbritannien, noch viele soziale Barrieren überwunden werden, bevor man sagen könnte, ob eine klare Antwort auf Ihre Frage möglich ist.

Siepmann: Haben Sie Vorschläge anzubieten, wie diese Barrieren zu überwinden sind? Schließlich ist mit Hilfe der Schallplatte und des Radios ein riesiges Repertoire an ernster Musik für sehr weite Kreise greifbar geworden. Wie sorgt man dafür, daß Musik ein Bestandteil des Milieus, der Erziehung, der Gewohnheiten dieser Kreise wird? Oder sollte man den Versuch gar nicht erst anstellen?

BRENDEL: Ich bin der letzte, der Musik jemandem aufoktroyieren möchte. Es hat seinen Reiz zu wissen, daß es noch ein paar Inseln der Musik gibt, Geheimreservate, die den meisten unzugänglich bleiben. Nur sollte nicht die soziale Zugehörigkeit das Betreten solcher Inseln von vornherein unmöglich machen. Es kommt sicherlich sehr stark darauf an, was man in der Schule vorgesetzt bekommt, und ich vermute, daß der Musikunterricht, die musikalische Stimulation während der Schulzeit, an vielen Orten völlig unzureichend ist.

Siepmann: Ich habe irgendwo gelesen, daß Sie auch über Musik schreiben.

BRENDEL: Das ist richtig.

Siepmann: Eine der Fragen, die ich mir notiert hatte, lautet: Ist Musik ein Thema, über das man schreiben sollte? Ich vermute, Ihre Antwort zu kennen: ja, unter bestimmten Umständen, und wenn die richtigen Leute es tun.

BRENDEL: Ja, ja. Ich glaube, man soll hier und da nicht davor zurückschrecken, das Unmögliche zu tun.

Siepmann: Wenn man nun über Musik schreibt: was sollte man, was läßt sich damit erreichen, und wo liegen die Gefahren?

BRENDEL: Die größte Gefahr ist Arroganz. Wenn man über etwas spricht, das sich, wie die Musik, der Sprache ständig entzieht, das sich kaum in Worte einfangen läßt, ohne daß ein endloser Schwall von Unsinn das Resultat wäre, ein Nebel von Ungenauigkeit, ein Meer von Subjektivität, die keinem etwas nützt - dann muß man dies mit der nötigen Vorsicht tun. Ich habe wenige Bücher über Musik gelesen, die dort lesenswert waren, wo die historische und archivarische Arbeit aufhörte und die Analyse, der Versuch, musikalische Tatbestände zu erhellen, begann.

Siepmann: Ihre eigenen außermusikalischen Interessen sind vielfältig. Glauben Sie, daß die Beschäftigung mit anderen künstlerischen oder intellektuellen Disziplinen, sei es Malerei, Architektur, Literatur oder Philosophie, den Musiker als Musiker fördern kann? Und würden Sie solche Beschäftigung jenen empfehlen, die sich nicht von selbst zu diesen Disziplinen hingezogen fühlen?

BRENDEL: Man kann solche Fragen nur für sich selbst beantwor­ ten. Ich kenne höchst begabte Musiker, die gänzlich unvisuell, ja farbenblind sind. Für mich persönlich heißt die Antwort: Ja, ich brauche ästhetische Nahrung. Es ist ein Hunger, der gestillt werden muß. Was ich allen Musikern empfehlen würde, auch denen, die sich sträuben, ist, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist, statt ihr auf einem der vielen heute üblichen Wege zu entfliehen. Es ist allerdings kein Wunder, daß eine so große Zahl von Leuten die Augen vor der Realität verschließt: der Anblick der Welt ist beängstigend. Vielleicht hat es, in der ganzen Geschichte der Menschheit, noch nie so dringende und erschreckende Probleme gegeben. Der Versuch, die Welt zu sehen, wie sie ist, wäre ein erster Schritt zu ihrer Lösung.

Siepmann: Halten Sie das Konzept der Musik als Zuflucht für bedenklich?

BRENDEL: Musik kann vieles sein. Sie kann in eine Sphäre transportieren, die Zeit und Wirklichkeit hinter sich läßt. Dies ist eine der großartigsten Seiten der Musik. Aber nicht die einzige.

Siepmann: Ich las über Ihre Vorliebe für barocke Architektur. Wie kommt es, daß Sie, so viel ich weiß, Barockmusik selten oder nie in Ihre Programme aufnehmen? Spielen Sie jemals Musik, die eigentlich für das Cembalo bestimmt ist?

BRENDEL: So gut wie nie. [Mein Standpunkt hat sich seit 1972 geändert. A.B.]

Siepmann: Und warum?

BRENDEL: Das ist meine Privatangelegenheit. Sicher liegt es auch am Instrument - obwohl ich nichts dagegen habe, daß jemand Bach auf dem Klavier spielt, wenn er es überzeugend fertigbringt. Hingegen kann ich Scarlatti auf dem heutigen Flügel einfach nicht ertragen.

Siepmann: Ganz egal, wer ihn spielt?

BRENDEL: Ganz egal. Diese aufregende Musik verliert für mich jeden Sinn, wenn man sie dem Cembalo entzieht. Es gibt dann aber wieder altenglische Stücke, zum Beispiel die Fantasia von Gibbons aus »Parthenia or the Maidenhead«, die ich auf dem Klavier lieber höre als auf alten Tasteninstrumenten: madrigalartige Musik, deren Töne sich mit vokaler Wärme verbinden müssen.

Siepmann: Wie beurteilen Sie jene »rekonstruierten« Aufführungen, in denen die Interpreten versuchen, Stil und Klang der Musik genauso wiederzugeben wie zur Zeit des Komponisten? Glauben Sie, daß dies möglich ist, ohne daß die seither angesammelte musikalische Erfahrung sich dazwischen stellte? Wir können vielleicht den Klang rekonstruieren, aber läßt sich das musikalische Erlebnis von damals wiederholen? Lohnt es überhaupt diesen Versuch?

BRENDEL: Ich glaube schon, daß er lohnt. Selbst wenn wir nicht das Erlebnis in seiner Vollständigkeit wiederbringen, ja auch nur mutmaßen können, so hat der Originalklang doch großen Anteil daran. Das Timbre mancher Originalinstrumente und der Habitus, den sie vom Spieler verlangen, können von größter Bedeutung sein. Nehmen wir etwa Monteverdi, nach all den Bearbeitungen von Hindemith, Malipiero oder Gott weiß wem. Das Instrumentarium seiner Zeit macht diese Musik erst für mich lebendig - selbst wenn wir nicht genau wissen, wie diese Instrumente eingesetzt wurden. Man hört Monteverdi mit völlig neuen Ohren. Was nun die Klaviermusik betrifft ...

Siepmann: Wie steht es da mit Mozart-Konzerten? Wieweit versuchen Sie da, den Klang des heutigen Konzertflügels an ein Mozartsches Klangideal anzupassen?

BRENDEL: Ich denke an das ganze Werk und an alle beteiligten Spieler. Da meine Partner im Orchester nicht die alten Instrumente verwenden, hätte es für mich kaum einen Sinn, mich an das Volumen eines Mozartschen Hammerflügels zu klammern. Mir persönlich kommt es eher darauf an, die Möglichkeiten des modernen Flügels zu nutzen und ihre Grenzen immer weiter und weiter zu stecken. Ich möchte jedes Werk als ein Problem für sich sehen, und zwar weniger ein historisches als ein psychologisches Problem, eine Frage seines spezifischen Charakters. Und der Flügel sollte auf diesen jeweiligen Charakter eingehen, selbst wenn dies manchmal über historische Beengungen hinausführt und Puristen erschreckt. Die Tatsache, daß Liszt Beethovens Broadwood-Flügel besaß, hat ihn sicher nicht daran gehindert, die Vorteile des modernen Flügeis zu bemerken. Und Schuberts Klavierwerke waren auf zeitgenössischen Instrumenten zum Teil geradezu unausführbar.

Siepmann: In Anbetracht der weiten Verbreitung von Aufführungen, die den Pfad des kleinsten Risikos wandeln, fragt man sich, ob das Bemühen gewisser Spieler etwa gerechtfertigt ist, Hörgewohnheiten zu attackieren, bekannte Werke neu zu sehen, selbst wenn dabei die Vorschriften des Komponisten bewußt ignoriert oder pervertiert werden.

BRENDEL: Es kommt darauf an, wie und weshalb man Stücke neu entdeckt. Mit der Absicht, es anders zu machen, sollte ein Interpret an ein Werk nicht herangehen. Daß ein Werk in neuem Licht erscheint, sollte das Ergebnis, der Gewinn des Aneignungsprozesses sein, aber keinesfalls die Münze, die den Mechanismus in Gang setzt. Ein Interpret, der auf Originalität zielt, geht in die Irre; es fehlt ihm nicht nur an Selbsterkenntnis, sondern meist auch an Talent. Wer die Vorschriften des Komponisten grundsätzlich in ihr Gegenteil verkehrt, um sich oder das Stück »interessant« zu machen, hätte Komponist werden sollen. Der Schaffende bezieht wichtige Impulse aus dem Widerspruch. Der Interpret dagegen ist Wiederaufrichter, nicht Zerstörer. Der Widerspruch des Interpreten richte sich nicht gegen die Komponisten, sondern gegen jene Kollegen, die den Ansprüchen der Komponisten nicht zu genügen suchen.

Siepmann: Machen Sie es sich zur Aufgabe, sich über die neue Musik auf dem Laufenden zu halten?

BRENDEL: Ja, aber das Wort Aufgabe klingt mir zu sehr nach saurer Arbeit. Neue Musik zu hören, ist mir ein Bedürfnis. Leider reicht meine Zeit nicht dazu aus, es so oft und so gründlich zu tun, wie ich gerne möchte.

Siepmann: Fühlen Sie, als Interpret, irgendwelche Verpflichtungen Ihren komponierenden Zeitgenossen gegenüber?

BRENDEL: Ich gestehe: nein. Was nicht heißt, daß ich ihnen nicht die stärkste Förderung und Beachtung wünsche und die sorgfältigsten Aufführungen, die sich denken lassen. Diese nötige Sorgfalt würde mich, wenn ich neue Musik spielen wollte, zur Spezialisierung zwingen. Statt ein umfassendes historisches Repertoire zu pflegen, müßte ich mich auf relativ wenige Werke dieser Zeit beschränken. Ich habe mich entschlossen, Museumsdiener zu sein. Übrigens ist es meine größte Freude, meine komponierenden Zeitgenossen im Publikum zu finden, wenn ich Schubert oder Beethoven spiele.

Siepmann: Studieren Sie im allgemeinen schnell?

BRENDEL: Weder schnell noch langsam. Mein Gedächtnis ist nicht phänomenal, aber es erfüllt seinen Zweck.

Siepmann: Hält Ihr Gedächtnis die Stücke ein für allemal fest, oder müssen sie immer wieder von Grund auf erarbeitet werden?

BRENDEL: Ich muß mir manche Stücke immer wieder ins Gedächt­nis rufen. Das hat seine Vorteile. Man ist nicht so abhängig von Gewohnheiten. Man verläßt sich nicht darauf, »seinen Stiefel herunterzudirigieren», wie Richard Strauss es nannte.

Siepmann: Spüren Sie jemals das Bedürfnis, von der Musik für eine Weile loszukommen, keine Taste zu berühren und dorthin zu reisen, wo man Musik nicht einmal aus Versehen hören kann?

BRENDEL: Jedes Jahr, am Beginn meines Urlaubs, meide ich eine oder zwei Wochen lang das Klavier. Ich plane dann nicht, noch erwarte ich, Musik zu hören, sträube mich aber auch nicht dagegen. Ich liebe Architekturfahrten: romanische oder spätbarocke Landkirchen entdecken zu können, macht mich glücklich. Alle vier, fünf Jahre versuche ich, eine längere Periode zum Studium freizuhalten. In diesem Zeitraum mache ich vielleicht Plattenaufnahmen, spiele aber keine Konzerte.

Siepmann: Lockt es Sie jemals, auszubrechen: ins Dirigieren zum Beispiel?

BRENDEL: Der Dirigent, sein Repertoire, seine Technik, seine Praxis der Übermittlung - das alles beschäftigt mich brennend. Ich dirigiere oft Stücke in meiner Vorstellung - aber nur dort: das Klavier ist interessant genug. Ich wäre viel zu schüchtern, dem Orchester Anweisungen zu erteilen, solange ich nicht die Überzeugung hätte, ein ganz und gar professioneller Kapellmeister zu sein. Es bliebe da immer, selbst bei genauer Kenntnis der Werke und des Orchesters, eine Kluft zwischen meiner Erfahrung als Pianist und meinen Ambitionen als Dirigent.

Siepmann: Sie sind jetzt ein sehr erfolgreicher Pianist. Wenn Ihr Erfolg Ihnen die Freiheit gäbe, Ihr professionelles Leben genau so einzurichten, wie Sie es sich wünschten: welche Veränderungen in Ihrem Leben würden Sie herbeiführen?

BRENDEL: Schwer zu sagen. Bisher fühle ich mich so gar nicht als das arme Opfer. Ich spiele viel, wenn auch längst nicht so viel wie einige meiner Kollegen; und ich spiele, weil es mir Spaß macht. Daß für viele andere Interessen neben der Musik die Zeit nicht ausreicht - damit muß ich mich abfinden. Man darf nicht unbescheiden sein.


© 1972 Alfred Brendel