Illustration von Monica Polasz, Hamburg



Der mißverstandene Liszt (1961)


I


Ich weiß, ich kompromittiere mich, indem ich ein Wort für Liszt einlege. In Mitteleuropa, Holland und Skandinavien zeigt man sich verstimmt, wenn man seinen Namen auf einem Konzertprogramm liest. Alle Vorurteile gegen seine Musik: bombastische Äußerlichkeit, billige Sentimentalität, Formlosigkeit, Wirkung um der Wirkung willen, werden dann sozusagen mit geschlossenen Ohren auf die Wiedergabe der etwa ebenfalls im Programm enthaltenen Beethoven-Sonate übertragen.
Denn ein Pianist, der sich für Liszt einsetzt, so schließt man, kann als Interpret der Klassiker nicht ganz ernst zu nehmen sein. Man vergißt, daß Liszt der überragende Beethoven-Interpret seines Jahrhunderts war und daß ein anderes Verfahren sich empfehlen würde: nämlich als bedeutenden Liszt-Spieler nur denjenigen zu akzeptieren, der auch seine Befugnis als Interpret klassischer Meisterwerke bewiesen hat.

Während sich also Pianisten gegenseitig den Rat geben, in Amsterdam oder Wien, München oder Stockholm, Liszt lieber von den Programmen zu streichen, hat die Strahlkraft seiner Klaviermusik in der übrigen, westlichen wie östlichen, Welt offenbar nicht nachgelassen.
Wir bemerken dort allerdings eine Schwäche für einen gewissen Typ des Virtuosen, der, klassischer Gestaltung im Grunde fern, dort brilliert, wo, prosaisch gesprochen, möglichst viele Noten in möglichst kurzer Zeit bewältigt werden müssen. Zwei so wesensverschiedene Komponisten wie Liszt und Rachmaninow werden gern im selben Atemzug genannt, als ob Genialität und noble Konversation nur einen Schritt weit voneinander entfernt seien. Wo so leichten Herzens darauf verzichtet wird, einen großen Mann von einem Grandseigneur zu unterscheiden, wird man Liszt-Enthusiasmus besser mit Vorsicht genießen.

Auffallend ist hier wie dort der Mangel an Maßstäben, wenn es darauf ankommt, die Qualität einer Liszt-Interpretation zu beurteilen, und - dies vor allem in unseren Zonen eines akademischen Klassizismus - der Mangel an Kenntnissen und gutem Willen, sobald es sich darum handelt, über den Schwächen der Lisztschen Musik ihre Einzigartigkeit nicht zu vergessen.


II


Liszts musikalische Sprache ist von Ungarn, Franzosen und Deutschen für sich in Anspruch genommen worden. Seine Vorliebe für französische Poesie und Bildung - eine Zeitlang recht unvollkommen verkörpert in der Person der Marie d'Agoult - ist ebenso bekannt wie seine Passion für ein romantisches Ungarn, das sich seinen Sinnen vor allem in Gestalt der Zigeunermusik erschloß. Dabei wäre es übertrieben, den Ungarischen Rhapsodien innerhalb seines Oeuvres jene zentrale Bedeutung beizumessen, die den Mazurken und Polonaisen im Chopinschen Gesamtwerk, immerhin zukommt; doch sei die Rolle, die die Zigeunertonleiter in Liszts Werken seit der Weimarer Zeit spielt, nicht unterschätzt.

Folgenreich hat sich auch der Eindruck der Tonsprachen Berlioz' und Chopins seinem Stil aufgeprägt. Alle drei waren sie Bewunderer des italienischen Belcanto.
Das Wesentliche zeigt sich aber, wenn wir Liszt als den Schüler Czernys begreifen, als den Jüngling, der in Paris die Werke Beethovens und Webers für sich und das Publikum entdeckte, als den Herausgeber und Bearbeiter Schuberts, dessen Kumpan Schober vorübergehend sein Sekretär war und ihm Material für eine (ungeschriebene) Schubert-Biographie lieferte, und als den älteren musikalischen Bruder Richard Wagners.
Der Saint-Simonist und der Philanthrop, der gütigste und unbestechlichste aller Kollegen, der bis ins Greisenalter von Damen höchster und anderer Kreise fast aufgefressene Mann von Welt und der weltflüchtige Katholik ergänzen das Bild in der Richtung auf das Menschliche und Allzumenschliche. Vorstellungen wie »Abbé Liszt in der Villa d'Este mit flatternder Soutane den Gounodschen Faustwalzer herunterdonnernd« haben lange genug ihr mephistophelisches Zwielicht verbreitet. Wir sollten unser kritisches Bewußtsein bis an die Zähne bewaffnen: gegen Anekdoten. Der faustische Ernst der h-Moll-Sonate verträgt keine Zweideutigkeiten. Man muß Liszt ernst nehmen, um ihn gut zu spielen.


III


Liszts Musik hat die Eigenschaft, den Charakter des Interpreten in fataler Weise zu spiegeln. Wenn Werke Liszts den Eindruck der Hohlheit und Oberflächlichkeit machen, der Vorspiegelung falscher Tatsachen, dann sind diese falschen Tatsachen gewöhnlich dem Interpreten zur Last zu legen, zuweilen dem (voreingenommenen) Hörer und am seltensten Liszt selbst.

Seine Klaviermusik - in so hohem Maße auf eine Wiedergabe angewiesen, die das Materielle des Klavierspiels vergessen macht - ist zu einem Vehikel für die bloß manuell Begabten geworden, denen tiefere Einsicht in die Musik verschlossen bleibt. (Dort, wo Liszt gerade in Ungnade steht, widmen sich die Schüler der Konservatorien mit demselben blinden Eifer der Zertrümmerung von Prokofieff-Sonaten.) Die Behexung der Technik an sich rafft die Anfälligen dahin, und für die ganze Seuche wird womöglich Liszt verantwortlich gemacht.

In Wirklichkeit stand er in zorniger Opposition zum Salonvirtuosentum seiner Zeit. Er war in erster Linie ein Ausdrucksphänomen - »Genie des Vortrags« nannte ihn Schumann - und war es so sehr, daß er sogar Czerny- und Cramer-Etüden mit hinreißendem Leben erfüllte. Die Besessenheit und die poetische Kraft seines Musizierens muß, im Verein mit dem neuartigen Wagemut seiner Technik, beim Publikum Staunen, bei den Rivalen seiner jüngeren Jahre aber geradezu Bestürzung erregt haben. Clara Wieck schreibt unter dem Eindruck Lisztscher Konzerte an Robert Schumann: »Mir kommt mein Spiel jetzt so fad und ich weiß gar nicht wie vor, daß ich beinah die Lust verloren hab, ferner noch zu reisen. Seit ich Liszts Bravour gehört und gesehen, komme ich mir vor wie eine Schülerin.« Und: »Manchmal meint man doch, es sei ein Geist, der da am Klavier sitzt.«
Die Technik diente Liszt als Mittel zur Eröffnung neuer Ausdrucksmöglichkeiten. Wer der Meinung ist, es gäbe auch nur eine einzige Lisztsche Komposition, deren Hauptzweck darin bestünde, den Virtuosen gymnastisch zu beschäftigen, sollte seine Hände von Liszt lassen.


IV


Ein Wort über die Form. Man wird von Liszts Musik nicht Vollendung im Sinne der Klassik erwarten dürfen. Schon in Schuberts Sonaten werden sich, wenn man die Errungenschaften der klassischen Form als Maßstab verwendet, nichts als Fehler und Mängel zeigen. Es gilt, andere Kriterien zu finden.

Etwas nicht zu Ende Geführtes, skizzenhaft Herausgeschleudertes, Fragmentarisches ist konstitutionell in Liszts Musik. Ist das Fragment nicht die reinste, die legitime künstlerische Form der Romantik? Wo das Utopische zum Hauptanliegen wird, der Versuch, Grenzenloses zu fassen, da muß die Form offen bleiben, um das Grenzenlose einzulassen. Wie Generalpausen zwei Abschnitte mehr miteinander verbinden als voneinander trennen, wie sich magische Verwandlungen in Übergängen vollziehen - das fühlbar zu machen, ist dem Interpreten anvertraut: Zauberei. Auf eine rational nicht faßbare Weise wird der organische Zusammenhang hergestellt, die offene Form im Unendlichen geschlossen.
Wer den Reiz des Fragmentarischen nicht erfahren hat, wird nicht nur der Lisztschen Musik, sondern der Romantik im allgemeinen fremd gegenüberstehen.


V


Diese Musik spielt sich also keineswegs von selbst. Man muß sie interpretieren, und zwar sinnvoll.
Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist hier manchmal nur ein Schritt.

Vermeiden Sie, verehrter Interpret, diesen Schritt. Es liegt an Ihnen, ob aus dem echten Pathos der Lisztschen Musik ein falsches wird, ob heroisches Feuer zur Heldenpose erstarrt, schwärmerische Lyrik in parfümierten Manieriertheiten erstickt. Geben Sie den Stellen religiöser Versenkung Einfachheit, lassen Sie hinter dem Kapriziösen das Diabolische spüren und hinter den seltsam kahlen Experimenten der Alterswerke die bodenlose Resignation.

Verwenden Sie auf jeden Fall die Originalausgaben oder die Breitkopf & Härtelsche Gesamtausgabe. Ziehen Sie das bei Breitkopf & Härtel erschienene »Liszt-Pädagogium«, eine Sammlung von Aufzeichnungen einiger Liszt-Schüler über ihren Unterricht beim Meister, zu Rate.
Fast alle im Handel befindlichen Ausgaben, mit Ausnahme der meist pietätvollen Sauerschen, sind unzuverlässig.
Beachten Sie besonders die Lisztschen Pedalvorschriften! Sie geben wichtige Aufschlüsse über Tonfall, Farbe und Atmosphäre, schaffen Orgelpunkte, unterstreichen harmonische Zusammenhänge. Man wird sie nicht buchstäblich, sondern ihrem Sinne nach realisieren; dann wird das Pedal die Musik nicht unter Wasser setzen, sondern ihr Atemluft geben.
Hüten Sie sich davor, die Pedalzeichen überall dort kurzerhand zu ignorieren, wo zahlreiche Nebennoten die Klarheit scheinbar gefährden. Es liegt bei Ihnen, mit Hilfe kleiner und kleinster Pedalvibrationen Transparenz zu erzielen. (Hören Sie Wilhelm Kempffs meisterhafte Decca-Aufnahmen!) Wer die Kadenzen am Anfang des »Totentanzes« in ihrer brausenden, moderne Klangballungen vorausahnenden Kühnheit mißversteht und secco heruntertrommelt, sollte Iieber Strawinsky spielen.
Zügeln Sie, so weit Ihr ungeheures Temperament dies zuläßt, die Zeitmaße. Es ist ja geradezu die Regel geworden, Liszt so schnell zu spielen, als gäbe es überall nur eine einzige Tempovorschrift: prestissimo possibile. Zumal das arme Es­-Dur-Konzert ist der Sportleidenschaft zum Opfer gefallen. Wo liegt der Rekord: bei 14 Minuten Spieldauer? Oder schon bei 13?
Der Aufführungsstil des reifen Liszt tendiert eher zu majestätischer Breite; dies bestätigen, bei aller schuldigen Skepsis gegenüber Metronomzahlen, die Tempoangaben der Silotischen »Totentanz«-Ausgabe und des »Liszt-Pädagogiums«. Auch als Dirigent von Beethoven-Symphonien soll Liszt langsamere Tempi genommen haben, als man sie bisher gewohnt war, und »mit überraschendem Gewinn für die Wirkung«, wie sogar eine renommierte Leipziger Zeitung anerkannte ...

Stich des Titelblattes der Paraphrase über Halévys "La Juive"


Eine andere Gefahr, der Sie trotz Ihrer starken Empfindsamkeit gewiß nicht erliegen werden, sind die rubato-Exzesse.
Es ist allerdings ebenso bedenklich, das Zeitmaß gewaltsam festzuhalten, wie es einer rubato-Anarchie auszuliefern. Der Rhythmus sei fest ohne Starrheit, männlich-elastisch. Denken Sie daran, daß Liszt den ersten Mephisto-Walzer und andere Klavierstücke für großes Orchester gesetzt hat, das heißt, beschränken Sie sich im allgemeinen auf Tempomodifikationen, die einem ausgezeichneten Orchester unter einem ebensolchen Dirigenten erreichbar sind. Liszts Musik braucht Sensibilität ohne Kleinlichkeit. Werke wie die Sonate und die Klavierkonzerte sind nicht wirre Bilderbögen, sondern symphonische Organismen.

Beweisen Sie sich und den anderen, daß Liszt einer der atemraubendsten Revolutionäre der Musikgeschichte war: präsentieren Sie seine kühne Harmonik mit einer Frische, als hätte nicht seither ein Jahrhundert musikalischer Entwicklung neue harmonische Reizschwellen überschritten. Machen Sie sich bewußt, wie modern seine späten Kompositionen sind. Es ist kein Zufall, daß die großen Bahnbrecher Busoni und Bartók sich immer mit Nachdruck zu Liszt bekannt haben.

Wir alle kommen von Liszt.
Den Typus des universellen Interpreten großen Stils, den er geschaffen hat, unsere Klangvorstellung, unsere Technik verdanken wir ihm.
Es wäre nett von Ihnen, verehrte Kollegen, sich dies einzugestehen. Es wäre nett vom Publikum, einige Vorurteile abzulegen. Eine Ehrenrettung Liszts wäre an der Zeit.

© 1961 Alfred Brendel