Illustration von Monica Polasz, Hamburg



Der Pianist und Bach (1976)
Ein Gespräch mit Terry Snow




Terry Snow: Sie haben es viele Jahre lang vermieden, Bach im Konzertsaal zu spielen. Was hat Sie nun bewogen, es doch zu tun?

ALFRED BRENDEL: Da war einerseits die Instrumentenfrage. Mein Instrument ist der moderne Flügel. Ich habe über zwei Jahrzehnte hinweg beobachtet, wie man Barockinstrumente allmählich meistern lernte. Ich hörte, mit Interesse oder Bewunderung, historisch orientierte Aufführungen. Die Frage war, wie sehr sich die Mühe, mit einem alten Instrumentarium zurecht zu kommen, auf die Dauer lohnen würde. Dann war da, als zweiter Faktor, das überwältigende Bach-Spiel meines Lehrers Edwin Fischer, in dessen Bann ich lange stand. Es mußte erst der Tag kommen, an dem ich sicher und naiv genug war, Bach auf meine eigene Weise zu spielen.

Snow: «Historische» Aufführungen haben Sie also nicht völlig überzeugt?

BRENDEL: Nicht bis zu jenem Punkt, der andere Aufführungen überflüssig gemacht hätte. Es scheint mir, daß zumindest ein Teil der Werke Bachs weniger an die Instrumente seiner Lebenszeit gebunden ist als die Musik Monteverdis oder Domenico Scarlattis, Rameaus oder Couperins. Eine Koexistenz «historischer» und «moderner» Bach-Aufführungen ist möglich und notwendig.

Snow: Bachs Klavierwerke auf dem heutigen Flügel: Welche Vorteile bringt das mit sich?

BRENDEL: Zunächst entspricht der Klang des Flügels, im Gegensatz zu dem alter Instrumente, dem Umfang und der Resonanz moderner Säle. Wer Bach nur auf barocken Instrumenten gelten lassen will, dürfte ihn eigentlich auch nur in barocken Marmorsälen anhören oder zu Hause auf einer Schallplatte. Nun sollte aber Bachs Musik, wie ich meine, Bestandteil des lebendigen Repertoires bleiben.
Die Fachkritik hat es zuwege gebracht, Bachs Werke von den Programmen der Klavierabende fast völlig zu vertreiben. Eine Folge davon ist, daß die Kunst des polyphonen Spiels, der individuellen Belebung jeder einzelnen Stimme in einem mehrstimmigen Gewebe, im Begriff ist, auszusterben.
Bach spielen bedeutet: Möglichkeiten freilegen. Ich sagte schon, Bachs Musik sei weniger »festgelegt«. Es ist manchmal schwer zu entscheiden, für welches seiner Tasteninstrumente ein Werk bestimmt ist. Die a-Moll-Fantasie und -Fuge BWV 904 etwa hat viel Orgelhaftes. Man findet unter Bachs Klavierkompositionen typische Ensemblestücke, Orchesterwerke, Konzerte oder Arien. Sie wirken auf mich wie zweidimensionale Reproduktionen von etwas Dreidimensionalem. Warum hat Bach sie dem Klavier anvertraut? Weil der Spieler, ohne auf Partner Rücksicht nehmen zu müssen, ein ganzes Werk allein auszuführen vermag. Der moderne Flügel mit seinen größeren dynamischen und koloristischen Möglichkeiten kann hier manchmal die fehlende dritte Dimension hinzufügen.

Snow: Wie reagiert der heutige Spieler auf die Abwesenheit von Vortragszeichen in Bachs Autographen? Indem er in der Wahl der Zeitmaße, in seiner Dynamik oder in der Praxis des Rubatospiels barocken Gepflogenheiten folgt?

BRENDEL: Es gibt Modifikationen von Rhythmus und Tempo, die auf dem heutigen Flügel überflüssig geworden sind. Auf solchen historischen Instrumenten, die es nicht gestatten, Phrasierungen und Deklamation mit dynamischen Mitteln auszudrücken, ist ein größeres Maß an Rubato erforderlich, damit die Musik atmen kann, vor allem dort, wo sie gesanglicher Natur ist. Es gibt allerdings Stücke, in denen ein straffes Gleichmaß des Tempos den Charakter der Musik in erster Linie bestimmt, so im Perpetuum-Mobile Schlußsatz des Italienischen Konzerts.

Snow: Gibt es charakteristische Eigenschaften des Cembalos, wie etwa den Gegensatz von «großen» und »kleinen« Registern, die Sie auf dein Flügel reproduzieren möchten?

BRENDEL: Ich werde Oktav-Verdoppelungen, wenn möglich, dort an bringen, wo solche Gegensätze musikalisch unerläßlich sind. Im allgemeinen interessiert mich aber weniger die Imitation alter Instrumente als das Aufsuchen jener Züge der Bachschen Musik, die auf seinen eigenen Instrumenten verborgen blieben. Und darin gibt es ja noch eine Gruppe von Werken besonderer, prophetischer Art, die ganz für Instrumente der Zukunft geschrieben scheinen. Die ungeheuerliche a-Moll-Fantasie (»Präludium«) BWV 922 gehört zu ihnen. Als Cembalostück scheint sie mir verfehlt. Erst der Flügel erweckt diese ständige Folge von Überraschungen, in der kein Takt preisgibt, wo der nächste hinführen wird, zum Leben.

Snow: Eine Wiedergabe, die sich die gesamte Entwicklung des Klavierspiels seit Bach zunutze macht und das Unerwartete und Überraschende der Musik so wichtig nimmt - läuft sie nicht auf eine Romantisierung Bachs hinaus?

BRENDEL: Nicht unbedingt. Man sieht in Bach manchmal nur den großen Ordner und Architekten. Dabei hat niemand den Geist der Improvisation unmittelbarer festzuhalten verstanden als Bach in seinen Fantasien. Hat er nicht die Ausführung der Arpeggien in der Chromatischen Fantasie dem Spieler überlassen? Ich glaube übrigens kaum, daß die Romantiker an der a-Moll-Fantasie viel Freude gehabt haben. Sicher fanden sie sie verrückt und verworren. Ich erinnere mich an die Zeit, da man den Übertreibungen »romantischer« Interpretationen solche von abstrakter, mechanischer Trockenheit entgegensetzte. Heute wiederum hören wir Couperin auf dem Cembalo in einer Weise, die mit Paderewskis Schallplatten vieles gemeinsam hat: Kein Akkord bleibt unarpeggiert, und die linke Hand schlägt immer vor der rechten an.

Snow: Wie steht es mit der Verwendung »neuzeitlicher« Dynamik?

BRENDEL: Schon Forkels Ausgabe der Chromatischen Fantasie und Fuge vom Anfang des 19. Jahrhunderts, eine Ausgabe, die sich auf die Interpretation Wilhelm Friedemann Bachs beruft, enthält dynamische Zeichen und Tempowechsel in großer Menge, darunter jenes widersinnige lange crescendo, das zum Ende der Fantasie wie zu einem Höhepunkt hinführt und von vielen späteren Ausgaben übernommen wurde. Ich glaube, daß die Erfahrung «historischer» Aufführungen, aber auch die Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert uns die Ohren geöffnet haben für ein neues Verständnis der Bachschen Konstruktionen, das Farbe und Atmosphäre nicht mehr zum Selbstzweck ausarten läßt und Dynamik von der Form und Struktur herleitet.

Snow: Geben Sie mir ein Beispiel.

BRENDEL: Seit Busoni spielt man die Arpeggiando-Akkorde der Chromatischen Fantasie gern in einer neuen, gedämpft mysteriösen Art, für die ich keine strukturelle Berechtigung sehe.

Snow: Welche Rolle spielen Transkriptionen, wie etwa die Busonis, in der Übertragung Bachs auf moderne Instrumente? Tragen sie zum besseren Verständnis Bachs bei, oder stellen sie sich zwischen das Werk und den Hörer?

BRENDEL: Es kommt auf die Transkription und die Aufführung an. Es wäre ganz falsch, Transkriptionen prinzipiell zu verdammen. Bach selbst hat in großem Stil transkribiert, und in unserem Jahrhundert haben Schönberg und Webern Bach aufs moderne Orchester übertragen. Busonis Klavierfassungen der Orgelchoralvorspiele vermitteln Bachs Musik oft in wunderbarer Weise, vorausgesetzt, daß man anhand des Originaltextes ein paar kleine Eigenmächtigkeiten Busonis korrigiert. Andere Transkriptionen stellen uns immerhin die reizvolle Aufgabe, den Flügel in eine Orgel und den Hall des Konzertsaals in Kirchenhall zu verwandeln. Wir bemerken dabei, daß sich dem Steinway, dank seiner Pedale, Orgelklänge um vieles leichter entlocken lassen als die Klangfarben des scheinbar benachbarten Cembalos.

Snow: Wann sind Regeln der alten Aufführungspraxis für Sie bindende Befehle?

BRENDEL: Wer Konventionen wiederbeleben will, muß sich fragen, was sie uns heute noch mitzuteilen haben. Sind sie mit dem Knochenbau, dein zentralen Nervensystem eines Werkes verknüpft? Tragen sie wesentlich zu seinem Charakter bei? Soll wirklich jeder längere Streicherton an- und abschwellen? Sollte jede Zweinotengruppe deklamatorisch ausgepreßt werden, jeder Vorhalt wie ein Stoßseufzer klingen? Manche Vortragsregeln führen, so wie die Lehrbücher sie darstellen, ins Museale und einstmals Modische. Wo die Beziehung zu unseren heutigen Ohren, Nerven, Erfahrungen und Lebensbedingungen verlorengeht, wird Interpretation zur Flucht in die Vergangenheit.

Snow: Es ist gesagt worden, die Musik vor der Französischen Revolution sei eher rhetorisch und deklamatorisch, die Musik nach der Revolution eher malerisch zu verstehen, nämlich Stimmungen und seelische Situationen malend.

BRENDEL: Ich kann mit solchen Vereinfachungen wenig anfangen. Im Meisterwerk sind «sprechende« Deklamation und große Linie, der Reiz der Konstruktion und der Reiz des Atmosphärischen miteinander verbunden. Der Interpret sollte, auf alten oder neuen Instrumenten, dieser Mehrdeutigkeit gerecht werden.  (1976)




Seit der Niederschrift dieses Interviews ist Überraschendes geschehen. Alte Instrumente werden neuerdings mit einer Leichtigkeit gehandhabt, die niemand erwartet hätte. Es gibt »historische« Orchester, die in ihrer Virtuosität und Nuanciertheit glänzenden »modernen« nicht mehr nachstehen, während ihr Repertoire nun sogar noch über die Musik der Aufklärung hinausgreift. Intonationsprobleme sind inzwischen weitgehend bewältigt, vernünftigere Klangbalancen, zumindest bei einzelnen Dirigenten und Tonmeistern, immerhin möglich geworden. Das Blech perforiert nicht mehr unweigerlich unser Trommelfell, der Pauker durchlöchert nicht mehr seine Pauke. Durch Erfahrung weiser geworden, vertreten heute die besten »historischen« Interpreten ihren Standpunkt, ohne zu übertreiben. Lehrbuchregeln und fixe Ideen werden von Musikern, für die Musik die Stimme aller Teile ist, auf ihre Plätze gewiesen. Aufführungen sind persönlicher geworden und weniger dogmatisch.

Zugleich haben die Pianisten Bach wiederentdeckt. Seine Klaviermusik ist, vor allem dank dem imponierenden Beispiel András Schiffs, wieder in die modernen Konzertsäle eingezogen. Das Wort »authentisch« ist in Verruf geraten, ein Nebeneinander »moderner» und »historischer» Aufführungsstile selbstverständlich geworden. Dieses Nebeneinander ist kein Gegeneinander mehr, ja nicht einmal ein striktes Gegenüber, denn »historische« Dirigenten haben es gelernt, mit »modernen« Spielern Frieden zu schließen, während solche Spieler Anregungen ihrer ehemals »authentischen« Kollegen bereitwilliger in sich aufnehmen. Auch die Zusammenarbeit »moderner« Dirigenten mit »historischen« Orchestern trägt ihre Früchte. Vorteile gibt es auf beiden Seiten; daß sie nicht vollends übertragbar sind, stärkt beide Lager.  (1989)

© 1976 & 1989 Alfred Brendel